Soziale Beziehungen ohne Machtverhältnisse sind nicht denkbar, der Begriff der Beziehung ist die wechselseitige Einflussnahme und somit die Möglichkeit der Veränderung des Gegenübers.
Wolff, Martin C.: Ernst und Entscheidung – Eine Phänomenologie von Konflikten, 2016, S22
Mit dem Begriff Macht setzen sich die Menschen schon seit Aristoteles auseinander. Die begriffliche Bestimmung von Macht wird seit Generationen mit Leidenschaft geführt. Schon als Kind lernt der Mensch seinen eigenen Willen auszudrücken. Beim Türmchen bauen und wieder zerstören lernt das Kind wie seine eigene Macht auf Gegenstände ausgeübt wird und sie nachhaltig verändert. Daraus wird in den frühen Jahren abgeleitet, dass dies Gestaltungsmacht auch auf Menschen wirkt, lernt das Kind doch sehr schnell, wie es seinen Willen bei seiner Mutter artikulieren kann und diese sofort reagiert.
Macht kann, nach Hannah Arendt[1], aber auch die Fähigkeit sein sich mit anderen zusammen zu schließen und im Einvernehmen zu handeln. Damit bekommt Macht eine enorme Gestaltungskraft. Diese Art der Machtausübung schafft starke Kooperationskräfte. Leider kennen wir auch die „destruktive Kooperation nach der Art „wir-gegen-sie““ (Sennett, Richard: Zusammenarbeit, 2014, S.18).
Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine bestimmte Definition von Macht:
Machtausübung als Kampf um Anerkennung der eigenen Ordnung.
Dieses Modell wird von Martin Wolff vorgestellt und erscheint mir als plausibelstes Modell von Machtkämpfen in agilen Organisationen. Es bietet zudem Handlungsmöglichkeiten an, die im Rahmen der Spielregeln agiler Unternehmen und Organisationen funktionieren.
Menschen lernen ihr ganzes Leben lang und bilden daraus eine innere Ordnung, einen eigenen Wertekompass
Menschen lernen mit jeder Sinneswahrnehmung wie ihr Handeln Einfluss auf Ihre Lebenswelt hat. Sie geben Ihrer Lebenswelt, selbstbestimmt, eine Art innere Ordnung, die der Mensch immer wieder gegen die Umwelt ordnet. Menschen entwickeln somit Ordnungsvorstellungen ihrer Lebenswelt.
Im Besten Fall basieren diese Ordnungsvorstellungen auf Erkenntnis. Erkenntnis meint in diesem Sinne, dass durch den Vergleich einer These und einer Antithese die Synthese nur gebildet werden kann, wenn beide Seiten erstmal anerkannt sind und damit im Ursprung gleichberechtigt.
Ob eine für sich alleine stehende Erfahrung ins eigene Ordnungssystem aufgenommen werden kann, wird demgemäß am besten beurteilt, wenn das Gegenteil durch den Menschen selber formuliert wird. So kann durch Vergleich wieder eine Synthese als eigener Erkenntnisprozesse begriffen und als Teil des eigenen Ordnungssystems formuliert werden.
Im schlechtesten Fall basiert die eigenen Ordnungsvorstellungen jedoch auf einseitiger Wahrnehmung, die nicht durch Gegenthesen überprüft werden. Es wird also nur das ins Ordnungssystem integriert was zu den bisherigen eignen Meinungen passt. Bei allen anderen Angeboten kommt es zur Wahrnehmungsabwehr. Dies geschieht oftmals unbewusst.
Am eigenen Ordnungssystem werden alle Erfahrungen und Entscheidungen ausgerichtet
Für unseren Machtbegriff ist es wichtig, dass Menschen ein Ordnungssystem haben, an dem sie alle Erfahrungen und Entscheidungen ausrichten. Der Mensch verändert das Ordnungssystem nur, wenn er an einem Erkenntnisgewinn interessiert ist, es also zum bewussten Auseinandersetzen mit zwei Thesen im obenstehenden Sinne kommt.
Macht wird häufig über Drohungen ausgeübt. Sie ist eine Art der Überredung und soll Zwang auf das gegenüber ausüben, um den eigenen Willen durchzusetzen. Macht stellt in diesem Sinne die Fähigkeit einseitig Interessen durchzusetzen in den Mittelpunkt des Handelns. Dabei können diese Interessen, den einseitig definierten Zielen, einer Person oder auch einer ganzen Interessensgruppe dienen. Das Durchsetzen von diesen eigenen Zielen erfolgt in der Regel unter Zwang und ohne sich selbst gegenüber äußeren Ansprüchen beteiligten Personen zu unterwerfen, diesen entgegenkommen zu müssen oder dies auch nur zu wollen.
Druck auf Menschen ausüben bedeute ihnen die Selbstständigkeit zu nehmen
Wird Macht in diesem Sinne eingesetzt findet sich der Mensch, auf den der Druck, die Drohung, ausgeübt wird, plötzlich in der Rolle eines Gegenstands wieder, der seine Selbstständigkeit verliert. Dies engt ein, führt zu Angst und so kann der Mensch eigentlich nicht anders als sich diesem Zugriff zur Wehr zu setzen „…um seine Selbstständigkeit zu behaupten“ (Wolff, S. 42).
Treffen zwei Menschen auf diese Weise aufeinander überschneiden sich zwei Lebenswelten mit Ihren Ordnungsvorstellungen. „Ihre jeweiligen Ordnungen geraten durcheinander und ringen um Bestand“ (ebd.). Sie versuchen jeweils den anderen zu begreifen und in die eigene Ordnung zu integrieren, eben zu unterwerfen.
Die Durchsetzung des eigenen Ordnungssystem führt zu Streit
„Der Streit ist (dementsprechend, ML) ein Klärungsprozess bei dem geklärt wird, welches Subjekt zum Teil der Umwelt des Anderen wird, sich dessen Ordnung unterordnet und damit seine eigenen Ordnungsansprüche aufgibt“ (ebd.). Ein Streit ist die einzige Möglichkeit die Ordnungsansprüche des gegenüber zu objektivieren[2]. Nur ein objektiver Blick ermöglicht die Erkenntnis zu akzeptieren und somit die Ordnungsansprüche des anderen erst einmal anzuerkennen. Aus diesem Anerkennen kann eine Lösung für den Konflikt gefunden werden. Diese Ordnungsansprüche von vornherein abzulehnen heißt Kampf und Konflikt. Somit ist die Klärung von Ordnungsansprüchen die Grundfrage der Macht.
Eine in diesem Sinne etablierte Konfliktregulation ist ein Protokoll[3] in dem definiert ist wie in einem Streitfall vorzugehen ist. Das Protokoll soll den Kampf um den Anerkennungsprozess ersetzen. Allerdings ist die Bedingung, dass alle Beteiligten das Protokoll anerkennen.
Streit schlichten bedeutet: Alle Parteien erkennen sich als Gegner und nicht als Feinde an
Um dieses Vorgehen einzusetzen ist es notwendig, dass alle Parteien sich als Gegner und nicht als Feinde verstehen. Gegner können sich als Gleiche anerkennen, Feinde nicht mehr. Führungsverantwortung in agilen Unternehmen bedeutet demnach Protokolle zu entwickeln und zu etablieren die den Kampf um den Anerkennungsprozess regulieren.
Vorsicht: Die eigene Ordnungsvorstellung ist die Wahrheit…
Die oben beschrieben notwendige Objektivierung im Konflikt hat jedoch auch ein Harken. Jede Erkenntnis enthält nämlich einen Wahrheitsanspruch. Menschen neigen dazu ihre Ordnungsvorstellung als Objektiv darzustellen um sie als Wahrheit zu inszenieren. Dieser Wahrheitsanspruch ist damit das Instrument der Legitimation von Herrschaft, eben der Durchsetzung von Macht. Der Hinweis auf die objektive Wahrheit verschleiert den Machtanspruch. Dies war z.B. das probate Mittel der katholischen Kirche im Mittelalter zur Machtausübung. Der objektive Charakter verlangt die bedingungslose Einsicht aller, andernfalls akzeptiert man die Wahrheit entweder aus Dummheit oder aus Boshaftigkeit nicht. In einem Fall wird der Mensch belehrt oder im anderen Fall bekämpft.
… Objektivierung der eigenen Ordnung führt zu Wahrheitsregimen
Auf diese Weise entstehen ganze Wahrheitsregime[4] über die Macht ausgeübt wird. Je länger diese wirken umso bestimmender wirken sie auf das soziale Netzwerk des Unternehmens. In Hierarchisch, linearen oder patriarchischen Organisation findet man häufig solche Wahrheitsregime, wobei sie nicht die ganze Organisation durchdrungen haben müssen, sondern durch aus nur in bestimmten Bereichen wirken können. Dort gibt es dann häufig Führungskräfte, die Ihr Team auf Basis dieses, vermeintlich objektiven, Wahrheitsanspruch einschwören.
In einer agilen Organisation hat diese Art der Machtausübung allerdings nichts verloren. Vorhanden Herrschaftsregime lassen sich nur durch das Top-Management durchbrechen. Leider lehrt mich die Erfahrung, dass bei solchen Regimen nur der Austausch von Personen hilft. Aber Vorsicht: Verschwindet ein Herrschaftsregime entsteht ein Vakuum, dies kann sehr schnell durch ein anderes gefüllt werden. Denn so schwer einem diese Erkenntnis auch fällt, selbst ein Wahrheitsregime mit Zwang und Drohung bietet Orientierung und Leitplanken, ist somit ein Ordnungssystem. Fällt das Ordnungssystem weg führt es zunächst ins Chaos der Orientierungslosigkeit. Da sich Menschen aber nach Orientierung sehnen wenden sie sich gerne dem nächstbesten Orientierungssystem zu.
Martin C. Wolf hat einen Vorschlag wie man diesem absoluten Wahrheitsanspruch entgegenwirken kann.
Lässt man sich auf diese Gedanken ein, erwächst die Teilhabe zum notwendigen Mittel der Anerkennung: Die eigenen Erkenntnisse müssen sichtbar und noch wichtiger, nachvollziehbar gemacht werden; sie müssen geteilt werden.
Ernst und Entscheidung, S. 59
Transparenz der eigenen Erkenntnisse wirken Wahrheitsregimen entgegen
[1] Aus Wolff, S. 23
[2] Hier im Sinne von Sachlich und Vorurteilsfrei
[3] Ein Protokoll, in diesem Sinne, legt fest, zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Reihenfolge welcher Vorgang durch wen oder durch was veranlasst wird. vgl. diplomatisches Protokoll etc.
[4] Tony Bennet in der documenta 14 Reader, München 2017, S. 341